Die Stundenschläferin

Sie probierte einiges aus, trank dunkles Starkbier am frühen Abend, Rotwein zu später Stunde, Mirabellenschnaps als Dämmerschoppen und aus Verzweiflung Kräutertee zum Entspannen. Nichts konnte Abhilfe leisten.

Sobald sie in ihrem Bett lag, begannen die Bilder zu laufen, wie ein Slow-Motion Film, verwandelten sich vor ihrem inneren Auge zu einem Tanz, der immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Die Gedanken entwickelten ein zerstörerisches Eigenleben, trieben sich an, hetzten durch Untiefen, verweilten in dunklen Strudellöchern, kreisten darin, ohne die Ursache des Traumas preiszugeben.

Dieser Zustand machte aus ihr eine Stundenschläferin, eine die vergeblich versuchte, Erholung im konstanten Schlaf zu finden. Schließlich ergab sie sich ihrem Körper, nahm alles an, was er mit ihr vollzog, überließ sich seinem eigenen Rhythmus von Wach- und Schlafphasen, bis er schließlich für sie zum neuen Herzschlag wurde. Bewusstes und Unbewusstes verschmolzen zu einem bunten Korallenschwamm, frei schwebend in der Unendlichkeit eines fernen Ozeans.

Oft erwachte sie zu ungewöhnlichen Zeiten und erlebte sich vollkommen aus dem Takt geworfen. So lief sie zum Beispiel um 3 Uhr morgens in ihre Küche und machte sich ein Omelette. Sie glitt immer mehr in eine unkalkulierbare Zeitzone, ließ sich nur noch von Impuls zu Impuls treiben, eine Ertrinkende ohne Rettungsinsel. Raum und Zeit schienen unbedeutend zu werden, befanden sich in unmittelbarer Auflösung. Tag und Nacht verschwammen in einer diffusen Grauzone, einzig allein dem Bedürfnis geschuldet bei Hunger zu essen, bei Durst zu Trinken, die Notdurft zu verrichten und fixe Termine wahrzunehmen.

Die Stundenschläferin lavierte wie in Trance durch den Tag, lebte auf Wolke sieben, jederzeit bereit zum Abflug. Die Stundenschläferin löste sich vor den Augen ihrer Mitwelt auf, schwebte engelsgleich in höhere Dimensionen und war von heute auf morgen weg, einfach so, ohne jemals existiert zu haben.